Ankunft und Empfang in
Deutschland
Dieser Bericht ist ein Gedächtnisprotokoll eine damals- sicher
aufgeweckten- 10 bis 14-jährigen Jungen und erhebt keinen Anspruch auf
historische Genauigkeit.
1. Die FahrtWir wurden an einem
sonnigen Junitag, es kann der 20. gewesen sein, am Bahnhof Misslitz in
Viehwagen -der amerikanischen Streitkräfte, die waren etwas kleiner als
die Deutschen- verladen. Je Waggon 30 Personen, inklusive Gepäck. Das
Gepäck wurde auf der linken Seite hoch aufgestapelt, so dass rechts Platz
für die Leute blieb. Wir waren in unserem Wagen hauptsächlich unsere
Verwandtschaft, Hawle, Wieder und Hanak, daneben auch noch andere
Ortsbewohner, an die ich mich aber nicht erinnere. Weil das Wetter
schön war, blieb die Türe offen, Zur Sicherheit diente eine querliegende
Stange. Die Fahrt war ein Stück Heimatkunde. Wir knieten oder hockten
vor der Türe und mein Onkel Edmund gab uns Erläuterungen. Es ging im
Schrittempo über die berühmte Kanitzer Brücke, ein Werk von Eiffel, der
auch den Pariser Eiffelturm gebaut hat, dann nach Brünn, wo wir den
Spielberg sahen und grausame Geschichten über die dort früher(?)
angewandten Folter hörten, dann Prag, ich erinnere mich genau, dass mein
Onkel sagte, dass wir uns den Hradschin genau ansehen sollen, "wer weiß ob
und wann wir den jemals wieder zu sehen kriegen werden", das war, als wir
über die Moldau fuhren. Ich sah ihn erst 46 Jahre später wieder. Zur
Verrichtung unserer Notdurft wurden wir bei verschiedenen Stops zu
Latrinen geleitet. Geleitet deshalb, weil da immer schwer bewaffnete
Männer Spalier standen, damit nur ja keiner entweiche! (Die werden wohl noch heute stolz auf ihren "Heldentaten"
sein!).
Unterwegs starb Herr Johann Bauer, Manfreds und mein Taufpate.
Bei
Furth im Walde überquerten wir die Grenze und waren in Deutschland.
In
Nürnberg regnete es, man sah nur Ruinen. Am Bahnsteig fand ich eine 10 000
Pengö Banknote, die ich Jahre als meinen geheimen Schatz
aufbewahrte. Dann ging es weiter über Würzburg nach Seckach in
Baden, amerikanische Zone. Unterwegs bekam ich einen riesigen Schreck,
als wir vom Zug aus eine Militärkolonne mit aufgemaltem Stern sahen. Ich
dachte das seien Russen, ich wusste nicht, dass die Amerikaner auch einen
Stern, allerdings einen weißen, zur Erkennung auf ihren Fahrzeugen
hatten.
In, oder besser bei, Seckach in der
"Teufelsklinge", wurden wir in ein Barackenlager eingewiesen. Da wurde
während des Krieges an einer unterirdischen Fabrik gebaut, das Lager war
wohl für die Arbeiter eingerichtet. Wir wurden schon unterwegs
entlaust, aber hier in Seckach erneut. Das ging so vonstatten, dass wir
mit einem umgekehrten Staubsauger ungeheure Mengen weißes Pulver unter
unsere Kleidung gepustet bekamen, man sagte, dass die Amerikaner das sehr
genau nehmen würden, mit der Reinlichkeit und so. Von wegen
Reinlichkeit, ich weiß nicht, ob wir uns unterwegs überhaupt gewaschen
haben oder waschen konnten. Für einen elfjährigen war das sicher kein
Problem! Während der Zeit im Lager hat es oft geregnet, es war bestimmt
recht schmutzig. Nach einigen Tagen in Seckach, wurden wir auf die
Dörfer verteilt. Wir kamen nach Altheim, Kreis
Buchen/Odenwald. Altheim selbst gehört schon zum "Bauland". Wir
wurden dort abgeladen und saßen mit und auf unserem Gepäck, bis wir eine
Bleibe zugeteilt bekamen oder eingewiesen wurden. Wir kamen ins Haus
der Familie Herold. Herr Franz Herold war noch in Kriegsgefangenschaft. Im
Haus wohnte nur Frau Herold mit ihrer Tochter Ottilie, sie war, ist so alt
wie ich. Unser Zimmer lag unter dem Dach, mit einem Vorraum für unser
Gepäck. Nach einigen Tagen bekamen wir von der Gemeinde ein aus
Brettern zusammengenageltes Bett und einen "Flüchtlingsofen". Unsere
Einweisung in das Haus Herold ging reibungslos vonstatten, Frau Herold war
nicht übertrieben freundlich, aber das war so ihre Natur. Mit der Tochter
Ottilie schlossen wir, mein Bruder und ich, bald innige Freundschaft, das
hieß im Klartext, dass sie voll gleichberechtigt mit uns mitraufen durfte,
je heftiger je besser. Als Herr Herold aus der Gefangenschaft nach
Hause kam, begrüßte ihn seine Frau mit "das ganze Haus ist voll!" worauf
er, noch in seiner Soldatenuniform, mit dem Rucksack auf dem Rücken,
antwortete: "Was hast Du denn anders erwartet, nach allem was geschah!".
Diesen einfachen Satz hat meine Mutter Herrn Herold nie
vergessen. Andere Familien hatten mit ihrer "Einweisung" nicht so viel
Glück, manche Hausbesitzer weigerten sich, Wohnraum abzugeben, so daß
einige Familien nur mit Polizeiunterstützung eine Bleibe finden konnten.
Das Zusammenleben, das unter solchen Umständen zustande kam, kann man sich
lebhaft vorstellen. Im Nachhinein betrachtet, weiß ich nicht, ob wir
immer so viel mehr Glück als viele andere hatten, oder ob es nicht auch an
meinen Eltern, hier insbesondere an meiner resoluten Mutter lag, die nie
viel nach hinten schaute, sondern immer das was vor ihr lag
anpackte? Auf jeden Fall, als manche noch auf ihren unausgepackten
Gepäckstücken saßen, versuchte Mutter schon irgendeine Arbeit zu finden,
damit wir zusätzlich zu den Lebensmittelmarken was zu essen bekamen. Herr
Herold erwies sich dabei als wahrer Freund und Helfer. Altheim war zu
der Zeit ein Zentrum des Grünkernanbaues, da half Mutter schon ein paar
Tage nach unserer Ankunft bei der Ernte mit, bei uns gab es dann täglich
eine dicke Grünkernsuppe. Später wurde mir schon bei der Erwähnung von
Grünkern schlecht und auch jetzt beim schreiben, habe ich den Geschmack
davon im Mund. Es soll aber sehr nahrhaft sein und meine Mutter war ja
wirklich nicht zu beneiden, mit 2 gefräßigen Buben gesegnet gewesen zu
sein. Ja, nach langer Zeit der Freiheit, ging es mit der Schule wieder
los. Nach mehr als 11/2 Jahren war es nicht leicht, sich wieder
einzufügen. Unser Lehrer Soden hatte aber auch seine liebe Not mit
vielleicht 60 Kinder in einem Klassenraum. Ich habe auch keine Erinnerung
ob und wenn, was wir gelernt haben. (Anekdoten aus dieser Zeit stehen an
anderer Stelle unter meinen "Kleine Geschichten" ) Das Land um Altheim
herum ist sehr steinig. Die Bauern haben immer Steine auf ihren Äckern
gesammelt und neben den Äckern auf Steinhalden geschüttet. Auf diesen
Halden wuchsen Kirschbäume, die wir abernteten, weil sie offensichtlich
niemandem gehörten, dann gab es dort und in den Wäldern eine Menge Beeren.
Meine Großmutter spannte uns zum pflücken recht intensiv ein.
Einmal, als wir wieder mit Großmutter im Wald waren, sah Vetter Reinhard (Hawle) eine wunderschöne Astgabel, die er gerne für eine Steinschleuder gehabt hätte. Leider war sie ziemlich hoch oben auf einem Buchenbäumchen. Bruder Manfred half Reinhard das Bäumchen herunter zu biegen. Reinhard nahm das Stämmchen zwischen die Beine und begann, die begehrte Astgabel mit seinem Taschenmesser abzuschneiden. Manfred verlor Interesse an der Sache, vielleicht hat Großmutter auch zur Arbeit gemahnt, er ließ das Bäumchen los. Für Reinhard begann eine kleine Himmelfahrt.
Das Bäumchen entpuppte sich als "Reinhard-Schleuder". Es hob ihn in die Höhe und dann landete er ziemlich unsanft am Boden. Zum Glück trug er nur Abschürfungen und "Arbeitsbefreiung" für den Tag davon.
Als ein
wahrer Glücksfall erwiesen sich die Bucheckern. Im Herbst 1946 gab es
davon so viele, wie niemals zuvor und auch seitdem nicht mehr. Zuerst,
wieder meine Großmutter als Organisator, gingen wir in den Wald zum
sammeln (klauben). Dann aber versorgte uns Herr Herold mit Sieben. Damit
konnte man schon eine Menge mehr einsammeln. Man kratzte den Waldboden mit
Laub und allem zusammen, tat das dann in das Sieb und siebte. Die lose
Erde fiel durch das Sieb, das leichte Laub kam nach oben und wenn man dann
dieses Laub wegnahm, hatte man überwiegend Bucheckern im Sieb. Wir
sammelten so viel, daß wir noch Anfang der 50er Jahre noch Öl davon
hatten. In Altheim entstand eine Ölmühle, in der die Bucheckern
ausgepresst wurden. Wichtig war auch, daß man einen Wehrmachts.
Benzinkanister organisieren konnte. Dafür waren wieder wir Buben
zuständig. Warum wir nicht auf die Idee kamen, Pilze zu sammeln,
verstehe ich heute noch nicht, aber wir haben in Damitz ja auch ganze
Felder mit Tomaten angebaut und kamen nicht auf die Idee, daß diese eßbar
sein könnten. Im Rückblick habe ich eine gute Erinnerung an Altheim,
obwohl wir nur eine kurze Zeit dort waren (während des Schreibens fällt
mir auf, daß wir damals nicht sagten "..dort wohnten..." sondern ".. wir
waren..", "..wir kamen...", "..wir sind in..") Wir waren fast noch eine
Damitzer Ortsgemeinschaft. Anfangs besuchten wir noch häufig andere
Damitzer in den Nachbargemeinden Waldstetten und Hainstadt. Aber das Leben
ging seinen Lauf und es bildeten sich unter uns Buben neue Freundschaften
mit Nicht-Damitzern. Allerdings kamen solche Freundschaften überwiegend
mit "Flüchtlingskindern" zustande. Den einheimischen Kindern wurde kaum
Zeit zum spielen gelassen, die mussten arbeiten. Für uns war das
unbegreiflich, in welchem Ausmaß die Kinderarbeit zur Normalität
gehörte. Ottilie wollte ich vergangenes Jahr (1999) besuchen, wir kamen
unangemeldet und haben sie nicht angetroffen. Es klappt sicher einmal.
Um den 10. Dezember kam die überraschende und erfreuliche Nachricht,
daß mein Vater "begnadigt" wurde und mit einem Transport nach Ulm
unterwegs sei. Ich denke, die Botschaft kam von der Tochter eines
Mitgefangenen meines Vaters, Herrn Wandschura (ich verwende die deutsche
Schreibweise). Die Tochter ist in Tullnitz / Dolenice zurück geblieben.
Wie und warum weiß ich nicht. Am 14.Dezember machten wir uns auf den Weg
von Altheim nach Ulm: Meine Mutter, mein Onkel Josef (Hawle) und ich. So
eine Reise in Deutschland im Winter 1946/ 1947 kann man sich heute kaum
ausmalen, deshalb ein etwas ausführlicherer Bericht: In
Altheim erhielten wir die Auskunft, daß um ca. 18 Uhr, von der
Bahnsatation Rosenberg, ein Zug nach Heilbronn ginge. Dort hätten wir
Anschluß nach Stuttgart. Wir machten uns zu Fuß auf den Weg nach dem 8
km entfernten Rosenberg. Dort erfuhren wir, daß es diese Zugverbindung
wohl gebe, allerdings hielte der Zug nicht in R. sondern nur in
Osterburken. Also gingen wir nach Osterburken, das heißt wir rannten und
stolperten dorthin. Der Bahnbeamte sagte uns nämlich, der kürzeste Weg sei
der an der Bahnlinie entlang. Es war dunkel, manchmal lag etwas Schnee,
Büsche, Wurzeln und wer weiß noch welche Hindernisse sonst noch im Wege
waren. Spät waren wir auch noch daran und so kamen wir völlig erschöpft in
Osterburken an. Die Strecke von Rosenberg nach Osterburken sind
zusätzliche ca. 7 km! Dort konnten wir uns erholen, denn der Zug hatte
Verspätung, fuhr aber dafür durch bis Stuttgart. Die wenigen Züge
damals waren überfüllt und so waren wir froh, im Gang einen einigermaßen
ausreichenden Stehplatz ergattert zu haben. Ich schlief bald auf der
Tasche meiner Mutter ein, nicht lange, dazu war ich zu neugierig, zu
erfahren, welche Stationen wir passierten und was passierte, wenn der Zug
hielt. Er hielt oft, meistens außerhalb der Bahnhöfe. Die meisten
Brücken waren ja nur Behelfsbrücken und zudem nur eingleisig, so daß diese
entweder nur im Schrittempo befahren werden konnten, oder aber es mußte
auf den Gegenzug gewartet werden. Ich glaube, es war nach Mitternacht, als
wir schließlich Stuttgart erreichten. Der Bahnhof hat mich mächtig
beeindruckt! So viele Gleise. Von der Großn Empfangshalle standen nur die
Umfassungsmauern und innen waren 2 eingezänte, gewaltige Locher im
Boden. Wir, d.h. meine Mutter und ich durften im Caritasheim schlafen,
wir bekamen ein Bett, die obere Etage eines Stockbettes nur für uns!!
Welch ein Luxus. (Ich glaube, meine Mutter hätte mich nicht alleine in
einem Bett schlafen lassen, dazu hatte sie in jener Zeit zu viel Angst,
man könnte gestohlen werden oder auf andere Weise abhanden
kommen!) Mein Onkel mußte im Wartesaal unter dem Turm die Nacht
verbringen. Das Caritasheim war nur für Mütter und Kinder. Am nächsten
Morgen ging es dann auf direktem Wege nach Ulm. Dabei stieg die
Spannung mit jedem Kilometer, besonders meine Mutter verlor ihre Ruhe,
eine völlig neue Muttererfahrung! Wir fuhren ja wirklich ohne
Information los, weder wußten wir, ob mein Vater tatsächlich entlassen
wurde und wenn, ob der Transport überhaupt schon angekommen ist. Der
Ulmer Bahnhof bestand nur aus einigen niedrigen Holzbaracken, die
Bahnsteigüberdachungen nur ausgeglühte Stahlskelette. Nur das Münster
ragte aus einer einzigen Trümmerlandschaft heraus. Man sagte uns, daß
wir zur Kienlesbergkaserne gehen müßten, dort sei das
Durchgangslager. Warum eigentlich Schulen und
Krankenhäuser von Bomben zerstört wurden und keine Kasernen, verstehe ich
bis heute nicht. Später machte ich während meiner Schulzeit eine ziemlich
umfangreiche Tour durch Ulmer Kasernen (Unterer Kuhbergkaserne,
Bleidornkaserne, Standortlazarett, Pionierkaserne), in denen Schulen
untergebracht waren, ich habe aber nach Altheim keine Schule mehr besucht,
die in einem Schulgebäude untergebracht war! Am Kasernentor
standen eine Menge Männer, die nach Angehörigen Ausschau hielten und,
welche Freude, mein Vater war unter Ihnen. Es stellte sich heraus, daß sie
das Lager nicht verlassen durften, bei uns dauerte es auch eine lange
Zeit, bis wir hinein konnten, so daß die erste Begrüßung durch das
Eisengitter des Tores erfolgte. Wir schliefen im Lager, ich durfte auf
die Pritsche von Frau H.Wagner, einer Lehrerin meines Bruders an der
Bürgerschule in Mißlitz schlafen, meine Mutter bei meinem Vater. Decken
erhielten wir nicht, ich meine, es war uns auch nicht gestattet, im Lager
zu schlafen. Am nächsten Tag erhielt mein Vater "Ausgang", so daß wir
eine kleine Stadtbesichtigung machen konnten. Meine Eltern sahen wohl
nicht viel, die hatten sich eine Menge zu erzählen. Auf dem
Münsterplatz war der erste Weihnachtsmarkt mit Karussell und
Schiffschaukel aufgebaut. Ich hatte so etwas bisher nur einmal im
Wiener Prater gesehen und war verständlicherweise mächtig
beeindruckt. Es stellte sich heraus, daß mein Vater keinesfalls
mit uns nach Altheim kommen würde. Er mußte auf seine offizielle
Entlassung und auf die Zuweisung eines Wohnortes warten. Er hat aber
versprochen, Weihnachten auf jeden nach Altheim zu kommen, notfalls
illegal. In der Tat kam er dann am 24. Dezember nachmittags bei uns
an. Es war ein schönes Weihnachten, auch ohne Geschenke und Baum. Vater
erzählte, daß er einen Schlafplatz in einem kleinen Zimmerchen in ERBACH
zugeteilt erhielt und einen Arbeitsplatz bei der Bahn in der
Wagenmeisterei am Ulmer Hauptbahnhof.
Wie oben bereits gesagt, Vater kam über Weihnachten
nach Altheim, wir hatten endlich, wenigstens für ein paar Tage, Hilfe für
schwere Arbeiten. Wir konnten den Ster Holz, der uns zugeteilt war , im
Wald abholen. Ansonsten aber glaube ich, war es für unsere Eltern eine
Zeit der schweren Entscheidungen: Sollte Vater zu uns nach Altheim kommen,
oder sollten wir zu ihm nach Erbach ziehen. Ausschlaggebend für die
Entscheidung "Erbach" waren wohl wir Buben: Die Eltern sahen im
abgelegenen Altheim keine Zukunft für uns. In dieser Zeit war so eine
Entscheidung endgültig. Im Prinzip durfte man, auf Grund der bestehenden
Vorschriften, den Wohnort nicht wechseln. Die einzige Ausnahme war, wenn
es sich um eine Familienzusammenführung handelte, aber selbst das war
nicht ohne Genehmigung zu bewerkstelligen.
Vater fuhr also nach Neujahr wieder nach Erbach, kam
aber nach wenigen Wochen wieder, ganz entnervt, nach Altheim. Er hatte
Probleme, die "Zuzugsgenehmigung" für uns zu erhalten. Sein 2-stündiger
Fußmarsch von der Bahnstation Rosenberg nach Altheim hat ihm dann wohl
wieder Mut gemacht, in Erbach weiter für unseren Zuzug zu kämpfen.
Schließlich aber kam die Botschaft, daß der Zuzug genehmigt sei.
Man muß verstehen, daß die Entscheidung, aus Altheim
wegzugehen auch bedeutete, die immer noch in Teilen existierende Damitzer
Dorfgemeinschaft aufzugeben und an einen Ort zu ziehen, an dem man keine
einzige Person kennt. Heute ist das nichts ungewöhnliches, aber wir
befinden uns mit der Erzählung im Jahr 1947, das war eine völlig andere
Zeit. Es stellte sich später heraus, daß eine Familie aus Tullnitz,
Johann und Marie Schiffner, sich zu dem gleichen Schritt entschieden
haben, ebenso Familie Albin Zeihsel aus Damitz, die in das ca 8 km
entfernten Beiningen zogen.
An einem kalten Tag im März 1947 starteten wir das
Unternehmen "Umzug". Das was wir heute mit dem Auto in knapp 3 Stunden
schaffen, war damals eine 3-tägige, abenteuerliche, Reise mit der Bahn.
Selbst mit unserer bescheidenen Habe, war es ratsam, diese keinen
Augenblick aus den Augen zu lassen. Die erste Etappe war von Altheim nach
Osterburken mit einem klapprigen holzgasbetriebenen LKW. Dort
übernachteten wir in einem ungeheizten Warteraum. Über den weiteren
Verlauf habe ich keine Erinnerung. Diese setzt wieder ein am übernächsten
Nachmittag in Erbach. Am Bahnhof lieh man uns einen größeren Handwagen mit
Ladepritsche. Darauf luden wir unsere Habe und zogen, vier Mann an der
Zahl, in unser neues Quartier. Es war in der Hauptstraße 16, im Hause
Amann, "Jauzes", so der Hausname. Dort erlebten wir unseren ersten
gewaltigen Schock bezogen auf die "Schicksalsgemeinschaft". Als wir unser
Gepäck abgeladen hatten, es war ja nicht so viel und es im ca. 12 qm
großen Kämmerchen verstaut hatten, bat Mutter die Hausleute darum, etwas
Tee auf dem Küchenherd kochen zu dürfen. Wir hatten seit Altheim ja nichts
warmes mehr gehabt. Diese Bitte wurde ihr abgeschlagen, weil man den Herd
selbst benötigt hat. Es war das einzige Mal in dieser Zeit, daß ich Mutter
weinen sah. Später am Abend bekamen wir eine Tasse kalte Milch.
Die Hausleute waren böse Menschen, auch wenn sie fast
täglich in die Kirche gingen! Die junge Frau Amann hatte ein so gutes
Herz, daß sie Mutter anbot, für uns und unser Schicksal in der Kirche zu
beten, sie meinte, daß wir doch sehr schlechte Leute sein müßten, weil
Gott uns so bestrafte. Mutter, in ihrer eher praktischen Art, bedankte
sich, meinte aber, daß, wenn sie schon so freundlich wäre, würde sie ein
wenig Milch für ihre Buben im Augenblick dem Gebet vorziehen. Darauf hat
die Frau Amann sie mit so was wie "gottloses Zigeunerpack" beschimpft,
jetzt waren wir ohne Gebet und natürlich auch ohne Milch. Ich möchte
aber auch anmerken, daß der kath. Ortspfarrer Schellmann, die christliche
Nächstenliebe auch nicht gepachtet hatte. Er hat, aus meiner sicht, einen
eher geringen Beitrag geleistet, das Los der "Flüchtlinge" zu mildern, er
war weit davon entfernt, seiner Gemeinde ein gutes Beispiel zu geben.
Wie war nun so ein Leben, das wir führten?
Das Kämmerchen erlaubte nicht 2 Betten aufzustellen.
Wir hatten ein Bett und einen Strohsack. Dieser Strohsack wurde tagsüber
auf das Bett gepackt, damit man sich im Raum bewegen konnte. Ich glaube,
wir hatten dann einen kleinen elektrischen Kocher, auf dem Mutter etwas
warmes zubereiten konnte. Tisch hatten wir keinen, Stuhl auch nicht, nur
einen Hocker. Als Tisch diente eine Kiste. Manfed und ich hatten noch
einige Wochen freie Zeit, in der wir die Gegend erkundigen konnten.
Als es unsere Eltern nicht mehr länger aufschieben
konnten, mußten wir schließlich zur Schule. Manfred kam in die Klasse von
Oberlehrer Schwarzwälder in die Schule, ich in die Klasse von Lehrer
Staudacher im ehemaligen HJ-Heim, eine Klasse mit vielleicht 120 Schülern,
einem L-förmigen Klassenraum. Die Schüler, die in der Ecke des kurzen
Schenkels des L saßen, haben ihren Lehrer nie zu Gesicht bekommen. Weil
ich insgesamt nur ca. 8 Wochen in Erbach zur Schule ging, möchte ich
darauf nicht weiter eingehen, dazu ist manches in den "Kleine Geschichten"
festgehalten. Ende April bekamen wir einen neuen Wohnraum zugewiesen,
in der Wagnerstraße 8 bei "Wagner Volz". Die Leute waren auch nicht
übertrieben freundlich, aber verständnisvoll und in ihrem Rahmen
hilfsbereit. Wir kamen uns schon wie im Paradies vor, 16 qm, dazu ein
eigener Eingang mit kleinem Flur, ein Klo für uns und einen Holzschuppen!
Vor dem Haus ein Wasserhahn, so daß wir nicht auch noch um Wasser betteln
mußten, wie das im Hause Amann der Fall war. Zusätzlich bekamen wir noch
ein Kämmerchen in einem Nachbarhaus zugewiesen, in dem Manfred schlief.
Im Taubried wurden "Flüchtlingsgärten" ausgewiesen,
wir bekamen auch einen, 200 Quadratmeter, die damalige Standardgröße. Es
war fast 30 min zu Fuß bis dorthin zu gehen, aber das war in jener Zeit
fast normal.
Irgendwann 1948 bekamen wir auch einen Handwagen. Das
war dann die Zeit, in der ich auf den Straßen Pferdeäpfel sammeln ging,
als Dünger für unseren Garten. Manfred ging in die Sägerei Rapp zum Kisten
nageln. Wir bekamen dafür Holzabfälle. Vom Herbst 1947 ging ich nach Ulm
in die Kepler- Mittelschule, die in der Zeit in der Kaserne in Fort
"Unterer Kuhberg" untergebracht war. (Ab 1948 dann im ehemaligen
Standortlazarett auf dem Michelsberg.) Manfred fing 1949 eine Lehre bei
der Firma Zwick in Einsingen an.
Meine Spielkameraden in der Zeit waren hauptsächlich
Buben aus Mödritz bei Brünn, die den berüchtigten Todesmarsch der Brünner mitgemacht hatten und dann über
Österreich nach Deutschland kamen. Einer der Kameraden, Walter Seidel,
Sohn des früheren Bürgermeisters von Mödritz, klopfte eines Tages (noch
1949?) am sehr frühen Morgen an das Fenster, hinter dem er mein Bett
wußte. Sein Vater schickte ihn, weil mein Vater dringend gleich am Morgen
ins Rathaus kommen sollte. Weil die Botschaft so dringend gehalten war,
ging Vater hin.
Dort kamen einige Männer, Flüchtlinge und
Einheimische, zusammen und es wurde ihnen das Projekt einer Siedlung mit
Eigenheimen am Hoferinweg vorgestellt. Später, nach einigem Kopfweh bei
Vater und Mutter, haben sie sich entschlossen, sich um ein solches Haus zu
bewerben. Die Baukosten waren mit DM 15 000.- veranschlagt. Eine immense
Summe für die damalige Zeit. Wir bekamen den Zuschlag. 1950 im Sommer
wurde mit dem Bau begonnen, im Juni 1951 zogen wir in unser Eigenheim ein.
Aber erstmal war es noch nicht so weit. Um Geld zu
sparen, haben wir die Ausschachtarbeiten für den Keller und die Fundamente
selbst gemacht. Unglücklicherweise fiel das mit einer geplanten
Fahrradtour mit der Jugendgruppe zusammen. Die Eltern bestanden darauf,
daß ich erst fahren dürfe, wenn wir mit den Grabarbeiten fertig wären. Ab
da waren jeden Tag 10 oder mehr Buben an unserer Grabstelle tätig, Martin
Wilderotter und sein Onkel Franz Turner halfen auch noch mit. Vielleicht
standen wir alle mehr im Weg, als daß wir geholfen haben, aber auf jeden
Fall waren der Kelleraushub und die Fundamentgräben zum Beginn unserer
Tour fertig.
Jetzt wäre noch zu klären, woher ich ein Fahrrad
hatte. Ganz einfach: Damals gab es noch überall wilde Müllhalden, in
Erbach hauptsächlich der "Kachelesberg". Dort und auf allen Plätzen der
Gegend im Umkreis von ca. 6 Kilometern suchte ich nach alten
Fahrradteilen. Das dauerte fast 2 Jahre, dann aber hatte ich ein
funktionierendes Fahrrad. Es hatte zwar unterschiedliche Reifengrößen an
Vorder- und Hinterrad, aber es fuhr zuverlässig. Ich pinselte den Rahmen
blau an, die Schutzbleche mit Silberbronce. Damit hatte ich ein Rad, das
äußerlich dem Zeitgeschmack ziemlich nahe kam. Technisch war es ein wenig
hinter der Zeit zurückgeblieben.
Im Juni 1951 war das neue Haus fertig und wir konnten
einziehen.
Mit diesem Einzug ins neue Haus war eigentlich für uns
die sogenannte "Flüchtlingszeit" beendet.
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